1.000 Jahre DisLikezig

    Leipzig feiert sich im Jahr 2015 mit großer Euphorie selbst: 1.000 Jahre Dichter und Denker, Helden, Virtuosen, Schlachten, demokratischer Geist. Kulturstadt, Universitätsstadt, Sportstadt, Messestadt, vor allem natürlich Heldenstadt! Unendlich viele glorreiche Kapitel der Stadtgeschichte werden im Laufe des Jahres in Form von Vorträgen, Ausstellungen, Rundgängen und Festen abgearbeitet.

    Bei all der Jubelei scheint die ganze Stadt eine harmonische, stolze Gemeinschaft zu sein – zumindest ist es der innige Wunsch der OrganisatorInnen, diesen Eindruck zu vermitteln. Dies gelingt selbstverständlich nur, wenn ein Teil der Stadtbevölkerung nicht zu Wort kommt und so Kritik an offizieller Politik und öffentlichem Klima die Größe der Leipziger Errungenschaften nicht schmälern kann. Man kann zum Beispiel bezweifeln, ob geflüchtete Menschen den Leipziger Statements in Sachen Toleranz stets zustimmen können, wenn es auch in Leipzig zu Brandanschlägen auf Geflüchtetenunterkünfte kommt und LEGIDA noch immer ihre rassistische Hetze auf die Straße tragen kann. Das Label der Weltoffenheit widerspricht auch dem Fakt der acht rassistisch bzw. rechtsmotivierten Morde in Leipzig seit 1990. Die tatsächliche Situation in der Stadt macht den Begriff zum Teil zur inhaltsleeren Hülle.

    Mit Lichterfesten, Montagsdemonstrationen oder dem Reenactment der Völkerschlacht erinnern die LeipzigerInnen gern möglichst pathetisch und mit reichlich Entertainment drumherum an das Leid und den Kampf der BürgerInnen dieser Stadt um (Reise-)Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit, gegen Tyrannei und Fremdbestimmung. Die Tatsache, dass Krieg, Diktatur, Armut und politische sowie religiöse Verfolgung bis heute für Millionen von Menschen ein normales, ruhiges Leben in Frieden und Wohlstand unmöglich machen, hat dabei keinen Platz. Der heroisierte Kampf um den Fall der Mauer wird nicht mit dem aktuellen Bau einer Mauer um Europa zusammengedacht. Empathie reicht bis zum Gartenzaun, keinesfalls bis zur Unterbringung für Geflüchtete um die Ecke. In der Stadt der „Revolution“ von ’89 ist neben Selbstverherrlichung und Heldenmythos schlicht kein Raum für die Anerkennung der gesellschaftlichen Zustände, in denen Rassismus und Ausgrenzung für viele Menschen zum Alltag gehören.

    Doch auch im Kleinen scheitert Leipzig immer wieder an den Ansprüchen an eine funktionierende Metropole. Die Menschen aus dem Umland staunen über die großzügig gestalteten Stationen des neuen City-Tunnels, der trotz explodierter Kosten und verfehltem Nutzen als Prestigeobjekt gehandelt wird. Was Menschen mit Mobilitätseinschränkungen und Eltern mit Kinderwagen von den fehlenden barrierefreien Zugängen zu den Bahnsteigen im Hauptbahnhof und den ständig defekten Aufzügen halten, möchte eigentlich niemand wissen.

    Leipzig ist stolz auf sein Image als kreative und besonders lebenswerte Stadt. Dass sie immer wieder in den Rankings der Top-Wohlfühl-Städte auftaucht und als Szene-Metropole und „kleines Berlin“ gehandelt wird, spielt dem Stadtmarketing in die Hände. Die Wahrheit ist aber: Man fördert in Leipzig nur so viel, wie unbedingt nötig ist – egal ob im Jugendtreff in einem sozial abgeschlagenen Stadtteil die SozialarbeiterInnen auf dem letzten Loch pfeifen. Die Kinder und Jugendlichen werden sich schon selbst zu helfen wissen, wenn es zu Hause nicht mehr auszuhalten ist.
    Glücklicherweise sind Kultur und selbstlose, hochmotivierte Kulturschaffende in Leipzig keine Rarität, sodass auch hier immer wieder eingespart werden kann. Prekäre Arbeitsverhältnisse, Ehrenamt am Limit, pro bono statt angemessen bezahlt. Wozu finanzielle Sicherheit schaffen, wenn doch die Selbstausbeutung das Markenzeichen der Freien Szene ist?

    Unabhängige, alternative Kultur und politische Opposition sind LeipzigerInnen dann ein Dorn im Auge, wenn das Maß des fürs Stadtmarketing Nötigen überschritten ist. Wohnraum wird zu Betongold erhoben, weshalb Polizei, Immobilienfirmen und bessergestellte MieterInnen solch wertmindernden Zuständen wie Graffiti, Hunden, Jugendlichen, Punks, Großfamilien und jeglichem Lärm über Zimmerlautstärke den Kampf angesagt haben. Willkürliche Personenkontrollen, penetrante Polizeipräsenz in Wohngebieten, Videoüberwachung des öffentlichen Raums und die mediale Kriminalisierung ganzer Stadtteile sind beliebte Maßnahmen zur legalen Beschränkung alternativer Räume.

    Dass sich die Stadt in einem augenscheinlichen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit befindet und diesen durch Festlichkeiten und hohle Imagekampagnen nur noch verstärkt, scheint weder in offiziellen noch in bürgerlichen Kreisen ein Problem zu sein. Leipzig wedelt viel zu gern mit seiner Fahne der Vielfalt und Weltoffenheit – solange sich alle im Rahmen des Beherrschbaren bewegen.

    Wir haben keine Lust auf selbstgerechten Lokalpatriotismus, der einmal mehr die Unzulänglichkeiten einer sächsischen Wannabe-Metropole verschleiert. Leipzig übt sich täglich in Rassismus, Ignoranz, Verdrängung und Kriminalisierung. Und deshalb sind wir nicht die Stadt!